Fortsetzung des Themenstranges "Mensch trifft Organisation"
Wenn ein Mensch Teil einer Organisation wird ereignet sich eine interessante Verwandlung. Wir sprachen schon darüber unter den Stichworten Restbündel Mensch, Soziales System und professionell persönlich.
Mit dem großen französischen Soziologen Pierre Bourdieu könnte man bei diesem Vorgang auch von "Magie" sprechen, die sich bei dieser Verwandlung ereignet. Es ist die Kraft des "institutionalisierten Kulturkapitals", die aufgrund eines Mitarbeiterausweises an einen Menschen eine Zuschreibung heftet, die von anderen als relevanter Wert anerkannt wird: "Das ist der Herr vom Bosch-Dienst.", "Gleich kommt der Oberarzt.", "Mein Kollege von der Uni Mainz ist der Meinung...", "Der Geschäftsführer / Institutsleiter / Vorstand der XY AG bittet um Rückruf...", "Der Regierungssprecher hat gesagt..." Immer ist die Zuheftung des Organisationsnamens an eine Person und damit deren Repräsentation eine Erweiterung der personalen Identität. Und sie hat sofort Wirkung darauf, wie der so erweiterte Mensch, der privat vielleicht völlig unauffällig ist, in den Augen der anderen Menschen nun wahrgenommen wird bzw. werden kann. Man muss nämlich in gewissem Sinne "eingeweiht" sein, um diese Bedeutung lesen zu können. Entlarvenderweise können kleine Kinder das bekanntlich noch nicht ;)
Und was macht all das mit dem - durch diese Zuschreibung erweiterten und damit gewachsenen - Menschen? Naja, ganz klar: Ist es eine als positiv und wertig erlebte kollektive Identität, mit der der Mensch hier verbunden wird, so fühlt sich das prinzipiell gut an. Denken Sie beispielsweise an den letzten Telefonanruf, den Sie im Namen Ihres Arbeitsgebers (oder der eigenen Firma) angenommen haben. Sie haben sich vermutlich gemeldet mit so etwas wie "Landesamt für Bau und Liegenschaften, Land Niedersachsen, Meier - was kann ich für Sie tun?" Welche Organisation es auch immer ist, für die Sie sich gemeldet haben - als Bezeichnung einer kollektiven Identität ist und klingt dieser (normalerweise) immer größer als Ihr eigener. Und wenn es für Sie keinen Grund gibt, sich für Ihren Arbeitgeber zu schämen, dann wäre es ganz natürlich, dass in Ihrer Anrufannahme - oder Ihrem Anrufbeantworter-Spruch - ein größeres oder kleineres Gefühl von Stolz mitschwingen würde. Denn immerhin sprechen Sie ja im Namen von etwas Größerem und im Namen einer Organisation, "die" Ihnen genug "vertraut", um sie "für sich" sprechen zu lassen. [Dazu dass diese alltagssprachliche Vermenschlichung der Organisation letztlich nicht stimmt, siehe die vorigen Posts zur Reihe.] Und darauf kann man ja auch zurecht stolz sein. Soweit so alltäglich und so gut.
Die Frage ist allerdings ob die "Erweiterung" - so wie oben unterstellt - wirklich ein "Wachstum" ist? Passt die Rolle, die Sie in Ihrer und für Ihre Organisation übernommen haben, also das ihnen zugeschriebene Befugnis- und Erwartungs-Set, dann ist darin Raum zum Wachsen. Zum Wachsen Ihrer Kompetenzen, Ihrer Professionalität und - idealerweise - Ihrer Persönlichkeit. Ist das Einzige, das wächst, Ihr Bauchspeck und das Gefühl gähnender Langeweile oder alternativ Ihr Miles&More-Konto und das Gefühl bedrückender Überforderung - so wissen Sie, dass mit dem Wachstum hier etwas in die falsche Richtung geht. Für Rollen gilt eigentlich die gleiche Regel wie bei wertigen Kleidungsstücken für Kinder: Gut auswählen, helfen richtig anzuziehen, Zeit geben zum Reinwachsen und weiterreichen, wenn die Kids rausgewachsen sind. Denn auch das ist wahr: Die Magie des Institutionskapitals "Mitgliedschaft", "Rollentitel", "Kleidungsstück" kann sich umkehren und gegen den Träger wenden, wenn "es einfach nicht" oder "einfach nicht mehr" passt. Und ob es passt - und wie lange - das kann letztlich nur jede*r für sich selbst rausfinden. Und auch dazu kommen Menschen ins Coaching.
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